Transkript für hörgeschädigte
Folge 18: Von Berches und Bar Mizwa
Das Podkäschtle:
Jüdisches Leben in Oberschwaben-Allgäu – Eine Reise in die Vergangenheit und Gegenwart
Moderator Thomas Strobel:
Charlotte, du bist hier in Bad Buchau geboren, aufgewachsen und auch zur Schule gegangen. Wann hattest du zum ersten Mal Kontakt zur jüdischen Gemeinde in deinem Leben?
Charlotte Mayenberger:
Mit der Gemeinde hatte ich ja gar keinen Kontakt, weil, als ich geboren wurde, 1956, gab es ja keine Gemeinde mehr. Aber zu meiner Kindheit gehörte der jüdische Friedhof. Damals war um den Friedhof herum keine Bebauung. Das war ein riesengroßer Spielplatz für uns Kinder. Und weil auf dem Friedhof Stacheldraht war, war das ganz klar etwas Verbotenes. So war der Friedhof für uns Kinder natürlich interessant. Es gab dichten Baumbestand, Eichhörnchen, Vögel – alles Mögliche, und das hat mich als Kind fasziniert. Das tut es eigentlich auch heute noch. Das war meine erste Begegnung mit dem Judentum. Als ich dann 1987 mit Stadtführungen anfing, war ein Kapitel die jüdische Geschichte. In der Schule habe ich darüber nichts gehört, aber dann habe ich mich ein bisschen damit auseinandergesetzt und 1989 die Tochter von Moritz Vierfelder kennengelernt. Diesen Moritz Vierfelder kannte ich schon aus Gesprächen – Kaffeehausbesitzer, Freiheitskämpfer, Museum-Mitgründer. Und dann treffe ich diese Frau zufällig im Museum. Wir waren uns gleich sympathisch, und sie ließ mir den Nachlass ihres Vaters zukommen, der heute im Leo Baeck Institute liegt. Ja, und dann hatte ich natürlich tolles Material. Damit war ich dann angefixt, und so hat sich das entwickelt. Es kamen immer wieder Anfragen von Nachfahren, und so ist die Geschichte gewachsen. Irgendwann ist das jetzt meins geworden.
Moderator:
Wir treffen uns hier und heute im Gedenkraum in Bad Buchau mit einer kleinen Ausstellung zur Geschichte der jüdischen Gemeinde hier in Bad Buchau. Wie kam es, dass es diesen Raum hier gibt? Und beschreib mal unseren Zuhörerinnen und Zuhörern, was sie hier erleben und vielleicht auch fühlen können.
Charlotte Mayenberger:
Mit der Beschäftigung der Geschichte ging natürlich das Sammeln los. Jeder Mensch ist ein Jäger und Sammler, und so war es auch bei mir. Durch die Kontakte kamen dann auch Objekte zusammen. Irgendwann war es einfach zu viel, alles in der Kiste drin. Wenn Nachfahren kamen, musste ich die Kiste immer ausbreiten. Dann war ich im Gemeinderat, und wir haben uns Räume angeschaut. Da habe ich gedacht: "Na ja, eigentlich wäre es doch praktisch, einen Begegnungsraum zu haben, wo ich die Leute empfangen kann, damit das nicht immer bei mir in der Stube ist." Die Stadt war damit einverstanden. Es ist ein städtisches Gebäude, und die Stadt stellt uns das kostenlos zur Verfügung. Wir sind mittlerweile ein kleiner Arbeitskreis. Es gibt ein paar Helfer, die am Sonntag Dienst machen. Die Objekte, die hier sind, das ist das bisschen, was von dieser Gemeinde übrig geblieben ist.
Moderator:
Hast du ein Lieblingsstück hier in der Ausstellung?
Charlotte Mayenberger:
Ja, das Gebetbuch von Pinchas Erlanger, weil es wirklich eine persönliche Sache ist, die ich von den Leuten selbst bekommen habe. Auch der Tallit (Gebetsschal) von Hermann Einstein. Normalerweise wird ein Jude mit seinem Tallit beerdigt. Vielleicht hatte er zwei, und dass sich Sendy (sein Sohn) von diesem persönlichen Stück seines Vaters getrennt hat, empfinde ich als große Wertschätzung.
Moderator:
Wie hat sich das Interesse am jüdischen Leben in Oberschwaben in den letzten Jahren verändert?
Charlotte Mayenberger:
Ich finde, es ist unheimlich gewachsen. Wenn ich an meine Anfangsjahre denke, war es natürlich schwierig. Viele Leute blockten am Anfang ab, aber ich bin sensibel mit dem Thema umgegangen. Jüdische Geschichte ist für mich nicht nur 1933 bis 1945, sondern sie beginnt schon 1382 und reicht bis 1968, mit dem Tod des letzten Buchauer Juden. Nach und nach wurde es besser, und die Leute kamen auf mich zu.
Moderator:
Buchau war nach Laupheim die zweitgrößte jüdische Gemeinde im Königreich Württemberg. Wie ist das zu erklären, und gibt es bis heute Auswirkungen?
Charlotte Mayenberger:
Als Buchauerin muss ich sagen, Buchau war die größte jüdische Gemeinde. Es war mal Laupheim größer, mal Buchau. Die Reichsstadt Buchau hatte das Recht, Juden aufzunehmen, und das brachte wirtschaftliche Vorteile. Die Juden brachten Waren und Informationen mit. Die Emanzipation der Juden führte zur Gründung von Fabriken, besonders in der Textilbranche, die für den ländlichen Raum sehr wichtig waren. Die Spuren davon sieht man bis heute in der Hofgartenstraße mit ihren stattlichen Häusern und Fabrikgebäuden.
Moderator:
Der jüdische Friedhof in Bad Buchau war nach dem Zweiten Weltkrieg sich selbst überlassen. Wie kam es dazu, dass er heute wieder ein Ort des Gedenkens ist?
Charlotte Mayenberger:
In dem Moment, als ich begann, mich mit der jüdischen Geschichte zu beschäftigen, wurde der Friedhof wichtig. Es ist ein Erinnerungsort. Er ist nicht abgeschlossen, denn er soll zugänglich sein. Ich empfinde ihn als Kraftort. Seit 1992 mache ich jedes Jahr am 9. November eine Gedenkveranstaltung auf dem Friedhof, und die wird immer besser besucht.
Moderator:
Gibt es eine Begegnung mit Nachfahren jüdischer Mitbürger, die dich besonders berührt hat?
Charlotte Mayenberger:
Ja, die Begegnung mit der Familie Straßburger. Sie kamen auf den Friedhof, und als sie Kaddisch sprachen und sangen, luden sie mich ein, mit ihnen zu singen. Das war ein sehr bewegender Moment für mich. Auch die Begegnung mit einer 103-jährigen Frau, die mich regelmäßig anruft und nach Informationen fragt, berührt mich tief.
Moderator:
Du machst all das ehrenamtlich, oder?
Charlotte Mayenberger:
Ja, und manche Leute finden das komisch, dass man so viel Zeit investiert. Aber was man zurückbekommt, ist mehr wert als Geld. In der Synagoge in Buchau gab es einen Spruch: „Besser guter Ruf als köstlich Öl.“ Am Anfang habe ich den nicht verstanden, aber genau das ist es, was mich bewegt. Wenn jemand sagt, mit der will ich aber nichts zu tun haben, ist es mir viel lieber, wenn die Leute mich grüßen: "Ah, das ist ja Charlotte!" Oder auch, wenn ich aus Amerika eine E-Mail bekomme: "Charlotte, ich habe gehört, dir geht's schlecht. Hoffentlich bist du bald wieder gesund." Das ist eine andere Lebensqualität.
Moderator:
Einer der bedeutendsten Physiker der Wissenschaftsgeschichte und einer der weltweit bekanntesten Wissenschaftler der Neuzeit hat ebenfalls eine Verbindung zur jüdischen Gemeinde in Bad Buchau.
Charlotte Mayenberger:
Da kannst du nur Albert Einstein meinen. Ja, die Geschichte der Einsteins geht im Grunde genommen zurück bis ins 17. Jahrhundert. Die Familie hat hier gewohnt. Hermann Einstein, der Vater von Albert Einstein, ist dann 1868 nach Ulm gezogen, hat in dieser Zeit Pauline Koch geheiratet, und so ist Albert halt kein Buchauer. Aber trotzdem stammen seine ganzen Vorfahren aus Buchau. Wenn wir davon ausgehen, er hat ja bis auf dem Totenbett nur Schwäbisch gesprochen.
Moderator:
Von Bad Buchau geht es nun nach Laupheim, wo ich, Thomas Strobel, mit Dr. Michael Niemetz mehr über den interkulturellen Austausch der christlichen und jüdischen Gemeinden erfahre. Wenn Sie selbst nach Laupheim kommen, werden Sie entdecken, wie die Stadt von diesem Austausch profitiert hat. Sie können mit allen Sinnen jüdische Tradition erleben. Aber erstmal von vorne.
Herr Niemetz, wir treffen uns hier und heute im Museum zur Geschichte von Christen und Juden in Laupheim. Sie sind der Leiter dieses Museums. Warum ist die Geschichte von Christen und Juden gerade in Laupheim so besonders?
Dr. Michael Niemetz:
Da gibt’s mehrere Gründe. Einerseits natürlich, weil die Stadt entschieden hat, ein Museum einzurichten. In den 90er-Jahren, also vor gut 30 Jahren, ist man mit dem Projekt gestartet und hat von Anfang an gesagt, man will das Zusammenführen. Also das jüdische Leben nicht als einen Sonderfall über Jahrhunderte, als ein Nebenprodukt oder als Ghettogeschichte erzählen, sondern die ganze Stadtgeschichte als christlich-jüdische Koexistenz, wie sie damals entwickelt wurde. Und dann gibt's natürlich die Grundgeschichte, dass Laupheim im 19. Jahrhundert die größte jüdische Gemeinde in Württemberg war. Da sind ganz beachtliche und überregional bedeutende Persönlichkeiten hervorgegangen. Also es gibt viel zu erzählen, es ist keine kurze Geschichte, sondern eine sehr reichhaltige. Und zum dritten muss man natürlich etwas ausstellen können. Ein Museum kann nicht einfach ein paar Worte wie in einem Wikipedia-Artikel aneinanderreihen. Wir arbeiten dreidimensional. Wir wollen einen Erfahrungsraum herstellen, inszenieren. Und dafür brauchen wir Exponate, und die gibt’s in Laupheim beachtlich viele, weil ganz viele Objekte gesammelt wurden, schon im alten Heimatmuseum, und weil viele Objekte von den jüdischen Laupheimern nach dem Krieg zurückgebracht wurden. Sie wollten, dass diese Geschichte erzählt wird.
Moderator:
Sie haben ja gerade schon gesagt, die Gemeinde Laupheims war im 19. Jahrhundert die größte in Württemberg. Durch das jüdische Leben hat sich Laupheim als Stadt wesentlich weiterentwickelt. Nehmen Sie uns bitte mal kurz mit in die Geschichte: Wie haben sich die Juden hier in Laupheim engagiert und generell in anderen Städten, und was haben sie zur Stadtentwicklung beigetragen?
Dr. Michael Niemetz:
Angefangen hat es genau vor 300 Jahren. 1724 kamen vier jüdische Familien nach Laupheim. Sie wurden von einem Fürsprecher, also einem Anwalt, vorgestellt und haben den Ortsherrn gefragt: "Können wir hier leben?" Das war der Beginn, weil dieses sogenannte Landjudentum hier in den kleineren Städten entstanden ist. Im Spätmittelalter wurden die Juden überall aus den großen Territorien und Reichsstädten vertrieben, und sie gingen aufs Land. Dort haben sie um Aufnahme gebeten. In der Regel wurden sie aufgenommen, weil der Ortsherr durch die Steuern, die die Juden zahlten, seine Kasse aufbessern konnte. Daraus wurde aber eine Erfolgsgeschichte. Immer mehr jüdische Familien kamen nach Laupheim, weil sich herumsprach, dass man hier gut leben kann. Es gab einen jüdischen Friedhof gleich neben der Ansiedlung. Sie durften eine Synagoge bauen, und das sprach sich herum. Um die Jahrhundertwende gab es über 50 jüdische Familien in Laupheim. Der entscheidende Schritt kam dann, als die Juden im Königreich Württemberg den Christen gleichgestellt wurden. Der württembergische König sagte: "Ich habe eine Minderheit in meinem ehemals rein protestantischen Land. Was mache ich mit denen?" Er machte ein Gesetz, und sie wurden gleichgestellt. Das war 1828. Ab dem Moment wurde aus dieser Minderheit eine tragende Gesellschaftsschicht in Laupheim. Sie entwickelten die Stadt mit, saßen im Gemeinderat, gründeten Firmen, Vereine, und machten bei allem mit. Dadurch wuchs die Gemeinde weiter, und es kamen Leute wie Carl Laemmle oder Gretel Bergmann heraus, die weltweit an Bedeutung gewannen. Laupheim ist ein Muster dafür, wie die Emanzipation der Juden in Deutschland eine Volksgeschichte wurde und das deutsche Judentum zur liberalen, bürgerlichen, gebildeten Schicht aufstieg, die kulturell, politisch und gesellschaftlich tragend für die Entwicklung des Landes war.
Moderator:
Sie widmen sich hier im Museum besonders der Beziehung zwischen der christlichen Mehrheit und der jüdischen Minderheit. Wie hat sich diese Beziehung über die Jahrhunderte entwickelt?
Dr. Michael Niemetz:
Am Anfang war es ein Nebeneinander, weil es im Alltag gar keine Berührungspunkte gab. Die Juden durften keine Berufe ausüben, die den Christen zugänglich waren, wie Landwirtschaft oder Handwerk. Das war alles nicht erlaubt. Erst durch die Gleichstellungsgesetze erhielten sie Freizügigkeit, durften Eigentum erwerben und alle Berufe ergreifen. Ab dem Moment kamen die Leute zusammen, und es entwickelte sich ein Beziehungsgeflecht. Vorbehalte wurden abgebaut, wenn die junge Generation zusammen aufwuchs. Die Leute schrieben sich Briefe, es entwickelten sich Freundschaften. Sie gingen gemeinsam auf Ausflüge, in den Tanzkurs, in den Schützenverein. Alles, was wir in unserer säkularen Gesellschaft für normal halten, entwickelte sich im 19. Jahrhundert. Natürlich auch, weil Religion keine so vorrangige Rolle mehr im Alltag spielte. Dieses Beziehungsgeflecht war unglaublich produktiv. Die Leute sagten: "Wir nehmen die Entwicklung der Stadt in unsere Hand." Sie wollten, dass der Oberamts-Sitz nach Laupheim kommt, dass aus dem Marktflecken eine Stadt wird, dass die Bahnstrecke einen Anschluss bekommt. Alles Dinge, die nicht nur kurzfristig auftauchten, sondern die Stadtentwicklung nachhaltig prägten.
Moderator:
Welche konkreten Spuren hat diese Geschichte in Laupheim hinterlassen?
Dr. Michael Niemetz:
Der jüdische Friedhof ist bis heute in tadellosem Zustand, er wurde nie geschändet. Das alte jüdische Viertel, der Judenberg, das im 18. Jahrhundert angelegt wurde, ist auch erhalten. Auch die Häuser, die vom jüdischen Bürgertum im 19. Jahrhundert errichtet wurden, stehen noch. Ein alltägliches Erbe ist der "Berches", das jüdische Festtagsbrot für den Schabbat, das heute in vielen Bäckereien Laupheims verkauft wird.
Moderator:
Wie schmeckt das jüdische Brot und was unterscheidet es von anderen Broten?
Dr. Michael Niemetz:
Es ist ein Hefegebäck, wenn man so will, ein Zopf mit einem relativ neutralen Teig und Samen drauf. Es ist eigentlich koscher, aber das ist heute natürlich nicht mehr der Fall, weil es keine jüdischen Bäckereien mehr gibt. Was ihn besonders macht, ist, dass er geflochten ist, als Symbol für die Zwölf Stämme Israels. Im Geschmack ist es relativ neutral, man kann es sowohl süß als auch salzig genießen. Es ist ein Alltagsbrot.
Moderator:
Wo kann ich den Berches heute kaufen?
Dr. Michael Niemetz:
In vielen Bäckereien in Laupheim und auch in den umliegenden Dörfern. Man kann den Berches schneiden, aber auch zupfen. Das ist beides möglich, man kann sportlich damit umgehen, aber auch schön in Scheiben schneiden.
Moderator:
Wie ist heute die Beziehung zwischen Christen und Juden in Laupheim?
Dr. Michael Niemetz:
Es gibt ein Beziehungsgeflecht, das sich nach dem Krieg entwickelt hat. Juden aus dem Exil nahmen früh Kontakt zu ihrer alten Heimat auf, sowohl mit der Verwaltung als auch privat. So ergaben sich schon nach dem Krieg Beziehungen. 1965 gab es im alten Heimatmuseum eine kleine Abteilung über die jüdische Gemeinde, und das Thema wurde nie verschwiegen. Richtig Schwung bekam es dann Ende der 70er und 80er Jahre, als auch öffentliche Veranstaltungen zur jüdischen Vergangenheit und Geschichte stattfanden. 1988 lud die Stadt die Überlebenden und Nachkommen der jüdischen Gemeinde ein, ihre alte Heimat zu besuchen, und einige kamen. In den 90er Jahren wurde das Museum aufgebaut, und heute gibt es einen regen Austausch zwischen den Nachkommen der Laupheimer Gemeinde, die in Amerika oder Israel leben. Sie kommen regelmäßig nach Laupheim oder wir besuchen sie dort.
Moderator:
Gibt es besondere Projekte, die aus diesem interkulturellen Austausch entstanden sind?
Dr. Michael Niemetz:
Ja, wir haben das Leichenhaus der jüdischen Gemeinde zu einer Außenstelle des Museums umgebaut. Es wurde 2014 eröffnet. Es war ein gemeinsames Projekt von den Nachkommen der jüdischen Gemeinde, der Stadt Laupheim und dem Haus der Geschichte Baden-Württemberg. Das Leichenhaus stammt von 1907, und wir haben es restauriert. Dort kann man die jüdischen Bestattungsrituale und die Geschichte des Friedhofs kennenlernen.
Moderator:
Gab es andere gemeinsame Projekte von Christen und Juden, die die Stadt weiterentwickelt haben?
Dr. Michael Niemetz:
Ja, die erste Turn- und Festhalle, die sogenannte Bühlerhalle, wurde in den 1920er Jahren gemeinsam von christlichen und jüdischen Laupheimern gebaut. Sie sammelten Geld aus der ganzen Welt, und ein Großteil der Summe kam von Carl Laemmle und der Firma Steiner aus New York. Mit diesen Mitteln konnte die Halle gebaut werden. Carl Laemmle blieb immer in Kontakt mit Laupheim und richtete auch eine Armenstiftung ein, die die Stadt im Ersten Weltkrieg unterstützte. 1919 wurde er zum Ehrenbürger von Laupheim ernannt. Er hat die Stadt immer wieder unterstützt, besonders nach dem Ersten Weltkrieg, als es in Deutschland sehr schwer war.
Moderator:
Was kann unsere heutige Gesellschaft aus diesen Geschichten und Projekten von damals lernen?
Dr. Michael Niemetz:
Man kann lernen, dass Freiheit produktiv genutzt werden kann. Was man oft unter "Gemeinsinn" versteht, das ist am Beispiel des Zusammenlebens von Christen und Juden in Laupheim sehr gut nachvollziehbar. Es zeigt, dass man in der Freiheit Nähe zulassen muss. Die Leute müssen miteinander kooperieren, die Koexistenz ermöglichen, und dann entsteht etwas Neues. Das ist auch das Auffällige an der Geschichte, die wir hier in Laupheim haben. Die Emanzipation der Juden, die vom Staat organisiert wurde durch Gesetze, war auf den ersten Blick ein abstrakter Vorgang. Aber zwei, drei Generationen später sehen wir, was daraus entstanden ist – eine kulturelle und gesellschaftliche Produktivität, eine Dynamik und Fruchtbarkeit, die man damals gar nicht vorhersagen konnte. Das ist das Positive, auch im Hinblick auf unsere Zukunft: Wenn man Gemeinsinn hat, dann kann etwas Gutes entstehen.
Moderator:
Im Museum werden auf mehreren Stockwerken 300 Jahre jüdische und christliche Geschichte beleuchtet. Neben Dokumenten, Fotografien und Gemälden gibt es auch einige Exponate, die die Geschichte der Menschen erzählen. Haben Sie ein persönliches Lieblingsstück?
Dr. Michael Niemetz:
Es gibt mehrere Exponate, die eine besondere Rolle spielen. Einige sind schön, auffällig oder haben eine tiefere inhaltliche Bedeutung. Ein Beispiel ist ein Notenblatt, komponiert von dem Laupheimer Kantor Emil Dzubas im Jahr 1904, zusammen mit dem Organisten der katholischen Gemeinde, Reinhold Später. Das Stück heißt Keduscha und ist ein hebräisches Gebet, das für Singstimme und Orgel geschrieben wurde. Es ist bemerkenswert, weil es ein Beispiel dafür ist, wie die christliche Orgel in die Synagoge integriert wurde. Es wurde teilweise sogar auf Deutsch gepredigt und gesungen. Das zeigt diese unheimlich schöne Symbiose zwischen der christlichen und jüdischen Kultur, die in Laupheim entstanden ist.
Moderator:
Jetzt haben wir das Museum zur Geschichte von Christen und Juden in Laupheim im Schloss Großlaupheim gesehen. Es gibt aber auch auf dem Judenberg ein weiteres Museum, das Dr. Bronner Museum. Wer war Dr. Bronner, und warum hat er sein eigenes Museum?
Dr. Michael Niemetz:
Dr. Bronner's Magic Soap ist eine Firma aus Amerika, die Bioseifen herstellt und sehr nachhaltig arbeitet, auch sehr erfolgreich. Die Firma wurde 1858 in Laupheim gegründet, auf dem Judenberg. Das Haus steht noch. Die Familie ist teilweise hier geblieben, teilweise in andere Städte gegangen, aber vor allem ab 1933 verfolgt, teilweise ermordet und vertrieben worden. Die Familie floh nach Amerika und baute dort die Firma neu auf. Vor etwa 20 Jahren nahm die Familie trotz dieser schwierigen Beziehungsgeschichte wieder Kontakt zu Laupheim auf. Vor etwa zehn Jahren haben sie das Haus gekauft und renoviert, um die Verbindung zu ihrer alten Heimat wiederherzustellen. Heute ist es eine Außenstelle der St. Elisabeth Stiftung für betreutes Wohnen. Im Keller befindet sich das Dr. Bronner Museum, das die Familiengeschichte von Laupheim bis nach Amerika erzählt. Sie haben auch ihren europäischen Stammsitz wieder nach Laupheim verlegt.
Moderator:
Das christlich-jüdische Laupheim hat viele beachtliche Persönlichkeiten hervorgebracht. Sogar die Gründung Hollywoods geht auf einen Laupheimer zurück, dessen Namen Sie schon mehrfach erwähnt haben: Carl Laemmle. Kann man sagen, dass es Hollywood ohne Laupheim nicht geben würde?
Dr. Michael Niemetz:
Ja, das kann man so sagen. Carl Laemmle war der Älteste von denen, die die großen Filmstudios in Hollywood gegründet haben, wie Metro-Goldwyn-Mayer, Paramount und Fox. Es waren alles europäische Juden, die nach Amerika gingen und dort diese Studios aufbauten. Carl Laemmle ging 1915 von New York nach Hollywood und eröffnete Universal City, das damals größte Filmstudio der Welt. Aber das Entscheidende an der Geschichte ist, dass er immer gesagt hat, diese Branche müsse unabhängig von allen Zwängen sein. 1912 zog er vor Gericht und gewann gegen Thomas Edison, der alle Lizenzen im Filmbereich kontrollierte. Das ermöglichte es, dass sich die Filmbranche befreien konnte und Hollywood sich so entwickeln konnte, wie wir es heute kennen.
Moderator:
Wir haben jetzt viel über berühmte jüdische Männer aus Laupheim gehört. Gab es auch berühmte Frauen?
Dr. Michael Niemetz:
Ja, eine auffällige Persönlichkeit im Bereich des Sports war Gretel Bergmann, eine der besten Leichtathletinnen und Hochspringerinnen der 1920er Jahre. Sie hat viele Medaillen gewonnen, wanderte aber 1934 nach England aus, weil sie die politische Lage in Deutschland nicht mehr ertragen konnte. 1936 wurde sie von den Nazis gezwungen, nach Deutschland zurückzukommen, um an den Olympischen Spielen in Berlin teilzunehmen. Sie war eine sogenannte Alibi-Jüdin im Sportkader, um die internationalen Proteste gegen die Spiele zu besänftigen. Am Ende durfte sie aber nicht teilnehmen, obwohl sie den deutschen Rekord im Hochsprung hielt. Sie wanderte später nach Amerika aus und weigerte sich lange, mit Deutschland wieder in Kontakt zu treten. Erst 1999 kehrte sie nach 63 Jahren in ihre alte Heimat zurück, um die offene Wunde zu schließen. Sie wollte nicht verzeihen, aber sie akzeptierte Laupheim als Teil ihrer Biografie und sagte der jungen Generation: "Das ist unsere gemeinsame Geschichte." Und so hat man wieder eine Ebene der Kommunikation und der Beziehung gefunden.
Off-Stimme:
Noch ein Tipp zum Schluss: Wer einen Ausflug in die Geschichte des jüdischen Lebens in Oberschwaben mit tollen Naturerlebnissen verknüpfen möchte, dem empfehlen wir Folge 11 vom Podkäschtle. Hier geht es um die einzigartige Naturlandschaft des Federsees.
Außerdem gibt es noch mehr Informationen zu heilsamen Thermen, zur Oberschwäbischen Barockstraße und zu unseren zertifizierten Radwegen. Diese Informationen finden Sie natürlich auch auf www.oberschwaben-tourismus.de. Dort gibt es auch alle Podcast-Folgen noch einmal zum Nachhören.
Das Podkäschtle ist der offizielle Podcast der Oberschwaben Tourismus GmbH. Mehr Infos gibt's unter www.oberschwaben-tourismus.de.